Sexuelle Freiheit ist auch eine Stilfrage. Wir stellen zehn Protagonisten vor, die Mode entwerfen, in der man frei von überkommenen Schönheitsidealen sein kann, wer man will, und machen kann, was man möchte – mit so viel Lust und Leidenschaft, wie man gerade verspürt.
Olivia Ballards Entwürfe entblößen mehr, als sie verdecken. Ihre Kleider und Oberteile sind aus semitransparentem Elastikstoff, den sie in ihrem Studio in Berlin-Neukölln mit einer Batik-Technik färbt. Der Stoff passt sich jedem Körper an – dehnt er sich, wird er durchsichtiger. Die Materialität von Ballards Mode ist ein Teil ihres Reizes. „Es macht nicht nur Spaß, meine Kleidung zu tragen, sondern auch, sie zu berühren, wenn man sie an- und auszieht“, sagt die Designerin, „Sex ist ein taktiler Reiz, und Kleidung ist es auch – beides macht Freude!“ Dass sie ihre Entwürfe für ganz unterschiedliche Körpertypen und Geschlechtsidentitäten fertigt, ist für Ballard nicht etwa Teil einer zeitgemäßen Marketingstrategie, sondern selbstverständlich; es spiegelt ihren Freundeskreis wider. „Jeder soll sich in meiner Mode wohlfühlen“, sagt die gebürtige New Yorkerin, „sie soll weder verändern noch verstecken.“
In Stockholm und Frankfurt arbeiten die zwei Designer an einer Alternative zur klassischen Männlichkeit: Mit ihren Kollektionen in Pastellfarben, die mit Schmetterlingsmotiven geschmückt sind, möchten sie auf die Verwandlung vom „starken zum gefühlvollen Mann“ hinweisen. Der Prozess findet in beiden Städten statt. Erst skizziert Andreas Schmidl in Frankfurt eine Geschichte, dann setzt Josef Lazo sie in Stockholm in Entwürfe um. So führte im letzten Sommer die Erzählung einer Poolparty zu einer Kollektion mit knappen Badehosen, pinkfarbenen Radlershorts und Hemden mit Kuhfellmuster. Neben einem neuen Männerbild interessieren sich Lazoschmidl auch für eine Überwindung der traditionellen Geschlechternormen und generell für sexuelle Befreiung. In ihrer bunten, schmal geschnittenen und latexfrohen Mode lebt sich die besonders gut, finden zumindest die Designer: „Sex ist schön und ein Naturbedürfnis“, sagt Schmidl: „Und: Alles ist erlaubt, und jeder hat das Recht, sich sexy zu fühlen.“
Nur auf den ersten Blick sind es gewöhnliche T-Shirts, auf den zweiten Blick geht es auf ihnen hoch her, denn jedes Design des Labels Carne Bollente ist mit bunt gestickten Sex- und Masturbationsszenen geschmückt. „Carne Bollente“ bedeutet „kochendes Fleisch“ und ist der Titel eines italienischen Pornofilms aus den 80er-Jahren. Den Designern Hijiri Endo, Agoston Palinko und Théodore Famery gefiel, dass nicht jeder sofort weiß, was dieser Name bezeichnet, genauso wie ihre Mode zunächst nach gefälliger Streetwear aussieht. „Viele Marken beschäftigen sich mit Sex“, sagt Hijiri Endo, „aber wir machen es auf eine freundliche und mainstreamverträgliche Art.“ Die Designer verstehen sich als Botschafter der Sexpositivität, die für sie sexuelle Selbstbestimmtheit, aber auch tabulose Kommunikation einschließt. Für diese Haltung wirbt man in der Mode von Carne Bollente auch: indem man Menschen jedes Geschlechts, jedes Alters und jeder Hautfarbe in unterschiedlichen Sexstellungen zeigt.
New Yorker Sommer können sehr heiß sein. Wie heiß, zeigt Priscavera in ihrem Lookbook für den kommenden Sommer: Darin laufen leicht bekleidete Models die Gehwege entlang, in gebundenen Bikinioberteilen zu hochgeschlitzten Röcken, kurzen Kleidern und bunten Tops. Alles in wildem Mustermix. Die Bilder wirken zufällig, fast wie von Paparazzi geschossen. Prisca Vera Franchetti, die Designerin hinter der im Big Apple ansässigen Marke, ist inspiriert von Mädchen, die zu jungen Frauen werden, und davon, wie sie sich selbst und ihre Sexualität finden. „Ich denke viel über Schuluniformen nach und wie sie in einer Zeit, in der Experimentieren so wichtig ist, unglaublich restriktiv sein können“, sagt die gebürtige Italienerin. Bereits kleine Veränderungen – wie ein gekürzter Rock oder ein eingestecktes Hemd – sind dann Mittel zur Selbstdarstellung. „Beim Erwachsenwerden bedeutet Sexyness, sich selbst kennenzulernen und sich mit dem wohlzufühlen, was man ist“, fügt sie hinzu, „meine Kleidung macht selbstsicher.“
Für Aarón Moreno sind die Entwürfe, die er mit seinem Label Emeerree entwirft, Alltagskleidung. Er stellt damit unsere Sehgewohnheiten aber doch einigermaßen auf die Probe, denn man kann getrost behaupten: So ganz gebräuchlich sind seine Tangas mit herzförmigen Löchern, Tanktops und Jeans mit großen Ausschnitten, gebundenen Korsetts und drapierten Kleider im Alltag noch nicht, eher sind es Basics mit sexy Twist. Lange war die Definition von „sexy“ eng mit vorherrschenden Schönheitsidealen verknüpft. „Heute hat der Begriff mehr mit Lust, Komfort und Selbstermächtigung zu tun“, sagt der Designer. Seine erste Unisex-Kollektion präsentierte er 2019 in Madrid, Mode an Geschlechtern zu definieren findet er „schwachsinnig“. „Sex ist ein spielerisches, eigentümliches Universum, voller Wagnisse. Als solches sehe ich Emeerree auch“, sagt Moreno.
Models: Elena @elenaarti, Juan Carlos @jn4uk4, Jorge @jorgegl__, Moisés @moilodez Fotoassistenz: @alexgendro Stylingassistenz: Jel Studio @jel_studio, Lucia @luci_______
„In Pornos werden Frauen objektiviert“, finden Nan Li und Emilia Pfohl und setzen mit ihrer Marke Namilia ein Zeichen dagegen. Mit ihrer Kollektion „Herotica“ griffen sie 2020 beispielsweise eine stereotype Phantasie auf: kindlich anmutende asiatische Frauen, die devot die brutalen Sexphantasien älterer weißer Männer bedienen. Neben Lack, Leder und viel nackter Haut gehörten zu dieser Kollektion auch hochgeschlossene und knöchellange Qipaos – ein traditionelles chinesisches Gewand – mit aufgenähten Stoffvulven, dem Markenzeichen von Namilia. „Wir übersexualisieren Frauen mit unseren Designs“, sagt Pfohl, „damit wollen wir gesellschaftliche Tabus rund um Sex und Körper brechen.“ Namilia gibt es seit 2015, sie zeigen ihre Mode auf der New York Fashion Week, ansässig sind sie aber in Berlin, denn „nirgends ist es so nasty wie hier“, sagt Li. Besonders die Klub-Sphäre mit ihren ganz eigenen Regeln gefällt ihnen, und ihre Mode funktioniert dort gut: Regelmäßig entdecken sie ihre Kleidung an Feiernden im Berghain.
Thierry Mugler liebte die absurde Sexyness, zum Beispiel Metallkorsette, ein Kleid, gehalten von einem Nippel-Piercing, und Lackanzüge mit Insektenmasken. Spektakulär, aber nicht eben komfortabel. Seit 2018 der amerikanische Designer Casey Cadwallader das Design des Hauses übernommen hat, ist Mugler noch immer sexy, aber ganz anders: An die Stelle der mageren Topmodels treten bei ihm Schauspielerinnen und Models aller Altersgruppen und Körpertypen. Mugler ist heute Mode wie auf den Leib geschneidert. Catsuits, Röcke, Korsagen, dekonstruierte Kostüme, viel Schwarz, Goldketten, die gezielt den Körper umspielen, und vor allen Dingen: nackte Haut. Aber egal, wie hauteng die Entwürfe sind, atmen können alle darin. „Ich dachte beim Entwerfen an meine Mutter und Schwester – beides Frauen mit tollen, kurvigen Körpern, denen Mode aber oft nicht passt.“ Statt Plexiglas und Metall verarbeitet Cadwallader Baumwolle, Leder und Elasthan in allen Varianten. „Mode ist für mich in erster Linie eine Dienstleistung“, sagt er.
Eine Welt, in der jeder tragen kann, was er oder sie will, halten die Kreativdirektorin Jale Richert und der Designer Michele Beil für eine Utopie. „Dafür gibt es noch zu viele Vorurteile, übergriffige Kommentare“, sagt Jale Richert. Mit ihrem 2014 gegründeten Label setzen die beiden auf das Format Unisex, Mode also, die für jedes Geschlecht tragbar ist, und setzen so ein Zeichen für Diversität und Inklusion. „Dafür haben wir eigens ein Größensystem entwickelt und verfeinert“, sagt Michele Beil. Ihre Interpretation von „sex sells“ entspricht dem Stil, den viele mit Berlin assoziieren – dunkle Farbwelten, viel Schwarz –, aber auch anspruchsvolles Handwerk und ausgesuchte Materialien, bei ihnen trifft Schneiderkunst auf den Berliner Underground. Mode, die nach Geschlechtern getrennt ist, haben sie übrigens auch im Sortiment. „Wichtig ist uns, dass wir eine positive Plattform bieten“, sagt Jale Richert.
Noch vor knapp zehn Jahren herrschten laut Murielle Victorine Scherre „dunkle Zeiten für sexuelle Freiheit und Inklusivität“. Besonders in Wäschegeschäften fand die Belgierin nur Belege überholter Geschlechterklischees: Spitzenwäsche, normierende Push-ups – viel folgte hier der Idee einer Reizwäsche, mit der Frauen Männer auf sich aufmerksam machen sollen. „Für eine Revolution gab es für mich keinen besseren Ort als in unserer eigenen Unterhose“, sagt sie. Ihre Lingerie-Marke La Fille d’O gründete sie 2003 in Gent – nachhaltig produziert und mit einer lebenslangen Reparaturgarantie auf alle Stücke. „Herkömmliche Dessous betonen vermeintliche Makel“, sagt Scherre, „aber nicht unsere Körper sind fehlerhaft, sondern die Wäsche ist es.“ Sie konzipiert ihre Modelle anders, experimentiert mit verstellbar breiten Trägern und elastischen Transparenzstoffen auf der Haut. „Unterwäsche ist wie Typographie. Sie kann die Art und Weise bestimmen, wie jemand unseren Körper liest, wie wir ihn selbst sehen und erleben“, erklärt sie. Geschlechteretiketten schränken dabei nur ein. Ihre Wäsche ist für jeden Menschen, der sich in ihr wohlfühlt.
Wenn konventionelle Mode sexuelle Vorzüge inszeniert, stehen bei Frauen meist das Dekolleté, die Taille, die Hüfte und der Po im Fokus, bei den Männern sind es eher die Schultern und Hüfte. Francisco Terra gibt sich mit diesen Normen nicht zufrieden und erweitert bewusst unseren Wahrnehmungsraum: „Ich spiele viel mit der Enthüllung ungewöhnlicher Körperstellen“, sagt er. So vermisst er den Körper neu, legt mal das Augenmerk auf links oberhalb des Nabels, auf die linke Seite der Taille, den gesamten Schritt. Das Ergebnis ist überraschend, auch weil er Materialien wie Wolle und Latex unbekümmert mischt. Den in Brasilien aufgewachsenen Designer, der das Nähen von seiner Großmutter gelernt und seine Marke nach ihr benannt hat, stört der Drang von Einkäufern, seine Mode zu kategorisieren: „Binäre Geschlechterrollen sind ein strukturelles Problem, und junge Designer leisten mit ihrer Mode, die eine andere Form von Selbstdarstellung erlaubt, einen Beitrag zu ihrer Überwindung.“ Er sieht Mode deswegen auch nicht als nur dekorativ, sondern als ein Bildungsinstrument, das Minderheiten repräsentieren und Grenzen überwinden kann.